Erfahrung: Demenz & Meditation

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Meditation und die Erfahrung der Demenz sind natürlich ganz verschieden:
Das erste ist eine spirituelle Übung, das zweite eine Krankheit.
Dennoch stellt die Übung der Meditation eine Möglichkeit dar, sich in die Welt dementer Menschen besser einfühlen zu können (Diese Anregung verdanke ich S. Beyer (2007), 41-46).

Durch Meditation transzendiert der Meditierende seinen Erwachsenen-Geist, er überschreitet ihn (formale ⇒ postformale Operationen) – der Krankheitsverlauf der Demenz bewirkt eine Regression, einen Rückfall auf vorhergehende Entwicklungsstufen (formale ⇒ präformale Operationen).
Die kognitiven Fähigkeiten Dementierender und Meditierender lassen sich einerseits vergleichen, da beide den Boden des „normalen“ Erwachsenengeistes verlassen. Andererseits sind sie aber voneinander grundverschieden, da die Entwicklung jeweils in eine andere Richtung geht.

Am besten lassen sich beide Geisteszustände wie die Enden eines Mandelhörnchens vorstellen: Der Mittelteil des Mandelhörnchens stellt dabei das normale Erwachsenenbewusstsein dar. Vom hinteren Ende her (fortgeschrittene Fähigkeiten) kann man das Vordere (rückgeschrittene Fähigkeiten) besser sehen und verstehen. Dennoch ist hinten hinten und vorne vorne.
Die beiden Schokoladenenden des Mandelhörnchens stehen sich gegenüber; beide sind von jedem Punkt des Mandelhörnchens aus einsehbar. Zwischen beiden Enden, zwischen Alpha und Omega, liegt die Lebensgeschichte eines Menschen, seine Biographie. Demente befinden sich auf dem Weg zurück zu Alpha, sind aber – im Unterschied zum Kind – bereits weit in Richtung Omega unterwegs gewesen.

Durch Meditation versetzen wir uns an den Punkt Omega und haben von dort einen guten Blick zum Punkt Alpha, wo alles begann.
Auch wenn beide Mandelhörnchenenden sich zum Verwechseln ähnlich sehen: Ein Rückschritt (Regression) in ein ozeanisches Einheitsbewusstsein, das noch keine Subjekt-Objekt-Spaltung kennt, und die Erfahrung der mystischen Unio zwischen Mensch und dem Seinsgrund/ Gott, ein Überschreiten des Normalbewusstseins, werden oft miteinander verwechselt (Vgl. den Briefwechsel zw. Romain Rolland und S. Freud (1927).

Gerade in dieser Verwechslung liegt jedoch m.E. das Potenzial der Meditation zum Verstehen dementer Menschen:

● Demenz stellt eine Art Regression dar – Reisberg nennt dies „Retrogenese“: Im Verlauf der Krankheit gehen Wissen und erlernte Fertigkeiten in der umgekehrten Reihenfolge verloren, in der sie erworben wurden. Im Verlauf der Erkrankung gerät der Mensch immer mehr in den „ewigen Augenblick“ (Vgl. S. Kostrzewa (2008), 41f.), da das Gedächtnis mit seiner Fähigkeit, Erlebtes zu erinnern und in Zeitphasen einzuteilen, immer mehr verloren geht.
● Die Übung der Meditation besteht darin, immer wieder in den gegenwärtigen Augenblick zurückzukehren.
● Demente Menschen machen Erfahrungen, die unserem Bewusstseinszustand des Träumens ähneln mögen, da das persönliche und kollektive Unbewusste sich hin und wieder in den Vordergrund schiebt (Vgl. K.-P. Buchmann (2007), 84-87. J. Wojnar (2007), 70-73.)
● Eine „Nebenwirkung“ von Meditation ist das, was im Buddhismus „Makyo“ genannt wird: Das Eintreten in die Welt des kollektiven Traums/ Unbewussten. Auch Dante beschreibt sein Erlebnis als eine Art Traum. Nach M. Josuttis und R. Aitken (Vgl. M. Josuttis (2000), 271-279; R. Aitken (1997), 97-102; P. Kapleau (1989), 429f.) sind es gerade religiöse Rituale, die uns das Eintreten in diese Dimension ermöglichen – durch das Ritual der Meditation, aber auch durch das gottesdienstliche Ritual wird uns diese Welt zugänglich: Der Übergang zur Abendmahlsfeier versetzt die anwesende Gemeinde in den Himmel, so dass sie mit den Engeln um Gottes Thron in das „Heilig, heilig“ einstimmen können, denn die Engel im Himmel befinden sich im Zustand eines ewigen Gottesdienstes. Das „heilige Spiel“ des Gottesdienstes kann eine Hilfe sein, zur Traumwelt dementer Menschen eine Affinität zu entwickeln.
● Vor allen in Spätphasen der Demenz, die mit Bettlägerigkeit einher gehen, verliert der Erkrankte sein Körpergefühl aufgrund seiner Immobilität.
● Die Übung der Meditation versetzt auch den Nicht-Dementen in einen „unbeweglichen“ Zustand, in dem er durch seine bewegungslose Körperhaltung und die halbgeschlossenen Augen eine Ent-Grenzung erfahren kann (Vgl. A. Newberg, E. D’Aquili, V. Rause (2003)).
● Der Meditierende machte die Erfahrung, dass er mehr ist, als seine Gefühle und Gedanken – denn die machen, was sie wollen, nicht, was er will!
● Diese Erfahrung – nur nicht selbstbewusst – machen auch demente Menschen. Durch diese Entidentifikation mit den eigenen Gefühlen und Gedanken, die durch regelmäßige Meditation angestoßen wird, entsteht wahre Empathie (Vgl. W. Singer, M. Ricard (2008) Als Wanderer zwischen den verschiedenen Welten des Bewusstseins wird dann auch unsere Akzeptanz für fremde Bewusstseinszustände wachsen, die wir zu akzeptieren lernen, ohne sie zu bewerten oder gar zu verurteilen. Durch regelmäßige Himmelsreisen lernen wir, den Menschen nicht auf seine kognitiven Fähigkeiten zu beschränken, sondern ihn mit Gottes Augen zu sehen.

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