Mehr als nur dumm, frech und faul? 

Prophetische Versuchungen in der systemischen Beratung

Die Rolle des systemischen Beraters – noch zeitgemäß?

Systemische Beratung lebt von Zurückhaltung, vom Fragen, vom Raum-Geben. Aber ist das noch genug? Wäre es nicht an der Zeit, mit mehr Klarheit und Deutlichkeit aufzutreten? Prophetisch zu sprechen – mit Vollmacht? 1

Schlaglichter aus der Praxis

Aus einer Fortbildung (Kleingruppe):

„Wir sammeln doch so viel Erfahrung, Best Practice – davon müssen wir doch erzählen! Die Zeit ist vorbei, dass Berater nur dumm, frech und faul sein durften!“

Der Satz spielt auf ein altes Selbstverständnis der systemischen Beratung an: Der Berater oder die Beraterin tritt nicht als Experte auf, sondern stellt sich in den Dienst des Prozesses. Doch was, wenn das System Orientierung sucht? Sollten Beratende nicht manchmal doch mutiger eigene Erfahrungen einbringen, statt sich auf Neutralität zu beschränken?

Ein Supervisor:

„Gemeindeberater müssten mehr das ‚prophetische Element‘ in die Beratungen einbringen – nämlich den zu beratenden Klienten deutlich sagen, dass das, was sie machen, nichts bringt vor der drohenden finanziellen Lage!“

Hier wird eine ganz andere Dimension berührt: Prophetie als schonungslose Wahrheit, als notwendige Konfrontation mit der Realität. Aber ist das noch systemisch? Oder überfordert ein solches Vorgehen das Beratungsverständnis?

Zwischen Besserwisser und Begleiter: Beratung als Zur-Verfügung-Stellen

Systemische Beratung heißt nicht, dass Erfahrungswissen und Best Practice aus der eigenen Beraterperspektive verboten sind. Aber sie dürfen nicht als absolute Wahrheit aufgedrängt werden. Vielmehr sind sie ein Angebot an das System, eine Intervention, die es annehmen oder ablehnen kann. 2

Dasselbe gilt für das „prophetische Element“. Es ist eine Wahrnehmung, die zur Verfügung gestellt wird – aber was das System daraus macht, bleibt ihm überlassen.

Hier zeigt sich der entscheidende Unterschied:

Der Prophet verkündet eine überzeitliche Wahrheit – er „weiß“, was zu tun ist. Der systemische Berater bietet eine Perspektive an – er stellt eine mögliche Sichtweise zur Diskussion.

Wir stehen nicht auf einem archimedischen Punkt – einem absoluten, festen Fundament der Wahrheit. Wir sind keine Propheten, sondern Impulsgeber.

Ein Blick in die Rezeptionsästhetik

Ein hilfreicher Vergleich ergibt sich aus der Rezeptionsästhetik:

Ein biblischer Text ist ein Verstehensangebot für den Lesenden. Aber wie er den Text versteht, liegt nicht mehr in der Hand des Textes.

Genauso verhält es sich mit systemischer Beratung:

Eine Intervention kann Klarheit bringen, eine Perspektive kann Augen öffnen, aber die Entscheidung darüber liegt beim System selbst.

Der Heilige Geist – Lernen in Demut

Damit stellt sich eine letzte, entscheidende Frage: Was passiert, wenn eine prophetische Intervention tatsächlich zukunftsweisend wird? Wenn ein Satz, ein Impuls, eine Wahrnehmung etwas verändert?

Hier kommt eine theologische Dimension ins Spiel: Der Heilige Geist als Akteur.

Die große Kunst ist es, in den hermeneutischen Zirkel hineinzufinden – zu erkennen, dass unsere eigene Auslegung nie vollkommen ist. Navid Kermani hat es treffend formuliert: „Gott weiß es besser.“3

Deshalb kann das Ziel nicht sein, prophetisch zu sprechen, um Recht zu behalten. Vielmehr muss die Haltung demütig sein:

- Nicht: „Ich sage euch, was richtig ist.“

- Sondern: „Hier ist eine mögliche Wahrheit – möge Gottes Geist euch helfen, sie zu prüfen.“

Wenn eine prophetische Intervention eine Zukunft öffnet, dann nicht, weil der Berater oder die Beraterin es wusste – sondern weil Gottes Geist die angemessene Haltung ermöglicht hat, um darauf zu reagieren.

Fazit: Prophetisch beraten? Ja – aber anders.

Systemische Beratung ist keine Prophetie. Aber sie kann prophetische Impulse setzen – wenn sie sich ihrer eigenen Begrenztheit bewusst bleibt.

Denn am Ende entscheidet das System – und vielleicht auch der Geist Gottes – was daraus wird.


  1. Dieser Artikel wurde mit Unterstützung von ChatGPT (OpenAI) entwickelt (OpenAI (2025): ChatGPT – KI-gestützte Schreibassistenz. OpenAI, San Francisco.) ↩︎
  2. Rössel, Heiko. 2024. “PSD 268: Gelingende Beratung – und die Aufklärung eines Missverständnisses in der Abgrenzung von Beratung und Coaching.” Systemisch Denken – Systemtheorie, Konstruktivismus und Soziale Systeme treffen die Wirtschaft, Systemische Theorie und Praxis für Business und Organisationen, 16. Dezember 2024. ↩︎
  3. Kermani, N. (2022). Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott. München: Hanser, S. 40. ↩︎

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